Dr. Klaus J. Becker & Wolfgang M.Schmitt

Spuren der Vergänglichkeit

Vom jüdischen Leben in Bockenheim

Vorwort

Bereits seit dem Mittelalter lebten in unseren beiden Vorgängergemeinden Groß- und Kleinbockenheim viele jüdische Mitbürger und Mitbürgerinnen. Sie waren durch die Jahrhunderte vor allem als Kaufleute ein wesentlicher und geachteter Teil der Dorfgemeinschaft, bis ab 1933 das gemeinsame Zusammenleben wie auch die hiesige eigenständige jüdische Kultur zerstört wurde.

Der Bockenheimer Gemeinderat hat deshalb beschlossen, die Spuren des jüdischen Lebens in Bockenheim weiter aufzuarbeiten und zu dokumentieren.

Für diese Broschüre konnte das bewährte Team, bestehend aus dem Historiker Dr. Klaus J. Becker und dem Fotografen Wolfgang M. Schmitt gewonnen werden. Beide haben bereits 2006 unsere Dorfgeschichte „Bockenheim an der Weinstraße – Vereint seit 50 Jahren“ verantwortet. Wir sind deshalb dankbar, dass sie sich nun auch dieses komplexen Themas angenommen haben.

Dabei konnten sie auch auf verdienstvolle Vorarbeiten wie die bereits 1988 entstandene Druckschrift: „Schicksale jüdischer Mitbürger in Bockenheim an der Weinstraße“ unseres ehemaligen Beigeordneten Hans Niederberger zurückgreifen.

Zu dem nun vorliegenden Ergebnis ist erfreulicherweise auch festzuhalten, dass dieses Forschungs- und Dokumentationsprojekt nicht nur von Anfang geschlossen von den politischen Gremien in Bockenheim begleitet wurde, die Autoren trafen auch sowohl bei ihrer inhaltlichen wie bei ihrer fotografischen Recherche auf eine große Unterstützung durch die hiesige Bevölkerung.

Neben dieser hoffentlich nun viel Beachtung findenden Broschüre „Vom jüdischen Leben in Bockenheim – Spuren der Vergänglichkeit“ wird die Gemeinde auch einen beschilderten Rundgang vom jüdischen Friedhof in Kindenheim bis zu unserer Synagoge in unserer Dorfmitte ausweisen, der das jüdische Leben in Bockenheim wieder deutlicher sichtbar machen wird.

Die Gemeinde Bockenheim an der Weinstraße stellt sich damit ihrer historischen Verantwortung.

Gunther Bechtel
Bürgermeister

Die Geschichte der Juden bis 1930

Auch die Geschichte der Juden in Bockenheim ist die einer seit mehr als 1700 Jahren im deutschen Sprachraum – wie in ganz Mitteleuropa – lebenden ethnischen und religiösen Minderheit. Ob es in den rheinischen Städten Köln, Trier, Mainz, Speyer und vor allem in der Bockenheim am nächsten liegenden Stadt Worms durchgehend jüdische Siedlungen gab, ist allerdings ungewiss.

Artikel in „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“ 1909, Heft 6, Seite 701

Jedoch liegt obige erste Erwähnung aus dem Jahr 1309 vor, als die Juden von Bockenheim gemeinsam mit den Leininger Vogtherren eine jährliche Reichssteuer von 7 Pfund zu zahlen hatten.

Im Landesarchiv in Speyer findet sich der nächste Hinweis auf jüdisches Leben aus dem Jahr 1573, als der Graf von Leiningen gegen den kurpfälzischen Schultheißen von Großbockenheim und den dortigen Juden Schmol wegen Verletzung des Guldenzollprivilegs und des Geleitrechts klagte. Schmol hatte seinem Fuhrmann, der Wein nach Worms bringen sollte, die Bezahlung eines Zolls am Leininger Zollstock in Kleinbockenheim untersagt und den Wein einfach wieder abladen lassen. Weitere Quellen liegen dem Autor aus dem Mittelalter nicht vor.
Es folgten die Schrecknisse des Dreißigjährigen Krieges von 1618 bis 1648 sowie des Pfälzischen Erbfolgekrieges von 1688 bis 1697, die Bockenheim wüst und ohne Bewohner zurückließen. Der damals zwangsläufig ebenfalls aufgelassene jüdische Friedhof in Kindenheim wird erstmals 1635 erwähnt.

Die konfessionsübergreifende Neubesiedlung Bockenheims erfolgte erst nach 1700 unter Graf Johann Friedrich von Leiningen-Dagsburg-Hardenburg. Unter seinem Patronat war es auch Juden wieder möglich, sich in Groß- und Kleinbockenheim sowie in Biedesheim, Bubenheim und Kindenheim anzusiedeln. Gemeinsam eröffnete man erneut den jüdischen Friedhof in Kindenheim. Der älteste Grabstein dort ist auf 1719 datiert. Bereits 1780 wurde das Gelände auf das noch heute 37,69 Ar große Friedhofsareal erweitert.

Allein durch den gemeinsamen Friedhof war man zwar eng verbunden, aber das Verhältnis zwischen den Gemeinden war nicht immer konfliktfrei. So wurde 1762 zwischen den Juden von Kindenheim, Bubenheim sowie Groß- und Kleinbockenheim ein Vergleich geschlossen, den Graf Reinhard Carl von Leiningen-Dagsburg-Hardenburg am 22. März 1763 bestätigte, wonach für die jüdischen Familien dieser Gemeinden der Gottesdienst nur in der Synagoge von Kindenheim stattfinden dürfe. Den Bockenheimer Juden wurde aber zumindest zugestanden, im Winter und bei schlechtem Wetter ihren Gottesdienst in der Wohnung des Gemeindemitglieds Jacob abzuhalten. 1786 wurde in Kindenheim eine neue Synagoge („Juddeschul“) im Hinterhaus in der Hauptstraße 72 erbaut. Dabei wurde die Vereinbarung von 1762 erneuert.

Kaiser Napoleon I. verdanken wir die ersten beiden namentlichen Verzeichnisse der jüdischen Mitbürger in Groß- und Kleinbockenheim in unserem Gemeindearchiv. Denn am 20. Juli 1808 hatte der Kaiser alle Juden in Frankreich, wozu ja auch Groß- und Kleinbockenheim zwischen 1799 und 1814 gehörten, zur Annahme von festen Familiennamen verpflichtet. So wissen wir auch, dass 1808 Großbockenheim 36 und Kleinbockenheim 30 jüdische Einwohner zählte (jeweils 6,2 % der Gesamteinwohnerschaft). Die Haushaltsvorstände in Großbockenheim waren Aron Cahn, David Levy, Moses Levy, Abraham Maas, Leopold Maas, Abraham Mayer, Adam Mayer und Isaac Mayer sowie in Kleinbockenheim Salomon Kiefer, Isaac Levistein, Abraham Mayer und Emanuel Mayer.

1817 konnte gemeinschaftlich in Großbockenheim ein Gebäude mit Lehrerwohnung und Synagoge errichtet werden. Das Gebäude hatte bereits seine noch heute charakteristischen Rundfenster. Über einem rundbogigen Portal war als Portalinschrift – heute im Inneren des Gebäudes – der Satz aus dem Tempelweihegebet Salomos zu lesen: „Lass deine Augen offen sein über diesem Hause Tag und Nacht“ (1. Könige 8,29). Der Betsaal hatte eine Größe von 61 qm und bot damit Platz für 25 Männer und 20 Frauen.

Die Portalinschrift der Synagoge – heute im Inneren des Gebäudes

Tatsächlich scheint die neue Synagoge Bockenheim als jüdischen Wohnort attraktiver gemacht zu haben, denn bereits 1823 waren in Großbockenheim 82 jüdische Einwohner (12,1 % der Gesamteinwohnerschaft) und 1824 in Kleinbockenheim 42 jüdische Einwohner (7,3 % der Gesamteinwohnerschaft) in sieben Familien mit zwölf schulpflichtigen Kindern erfasst.

Beispielhaft für die jüdische Auswanderung in die USA ist hier der Grabstein von Jakob Dreyfus abgebildet – geboren am 14. Juli 1806 in Kleinbockenheim und gestorben am 18. Mai 1888 in Shreveport im US-Bundesstaat Louisiana

1848 verzeichnete Großbockenheim 86 jüdische Einwohner in 16 Familien – Kleinbockenheim 41 in 10 Familien. Allerdings veranlasste die Niederschlagung des Pfälzer Aufstands und damit der demokratischen Bewegung auch in Bockenheim durch die preußische Armee ein Jahr später einen signifikanten Teil der Bockenheimer Juden zur Auswanderung in die USA, denn 1852 zählte Großbockenheim nur noch 52 jüdische Einwohner.

Dass sich nachfolgend der Schwerpunkt des jüdischen Lebens zunehmend von Groß- nach Kleinbockenheim verlagerte, macht auch die im Gemeindearchiv vorhandene Bitte vom 30. Juli 1866 an die Bezirksregierung in Speyer um Genehmigung der Neuwahl der Mitglieder des Synagogenausschusses für Klein- und Großbockenheim deutlich. Unterzeichnet ist sie von neun männlichen Haushaltsvorständen aus Kleinbockenheim, aber nur noch von fünf aus Großbockenheim.

Am 16. Mai 1867 wurde die kombinierte Stelle eines israelitischen Religionslehrers, Schächters und Vorbeters zu Kindenheim sowie Groß- und Kleinbockenheim im Kanton Grünstadt ausgeschrieben. Das Gehalt betrug bar aus der Kultuskasse 300 Gulden. Zusätzlich war ein Nebenverdienst aus Schächtergebühren und sonstigen Kasualien von 100 Gulden zu erwarten. Der Lehrer hatte seinen Wohnsitz in Großbockenheim zu nehmen; dreimal wöchentlich war in Großbockenheim den Kindern von Groß- und Kleinbockenheim sowie ebenfalls dreimal wöchentlich in Kindenheim den Kindern den Religionsunterricht zu erteilen und in der gemeinschaftlichen Synagoge den Dienst des Vorbeters und Vorsängers zu verrichten.

Anzeige in der Zeitschrift „Der Israelit“ (i) vom 29. Mai 1867

Der Israelit

Ein Centralorgan für das orthodoxe Judentum. Organ der Aguda, Frankfurt/M. war eine deutschsprachige jüdische Wochenzeitschrift, die vom 15. Mai 1860 bis zum Verbot durch die Nationalsozialisten am 3. November 1938 in Mainz bzw. Frankfurt am Main erschien.
Offensichtlich war man aber nicht fündig geworden, denn bereits am 17. November 1869 erschien in der Zeitschrift „Der Israelit“ die gleiche Anzeige noch einmal:
Anzeige in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 17. November 1869

Auch die mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches am 18. Januar 1871 verbundene gesetzliche Gleichstellung führte nicht mehr zu einer Stabilisierung der jüdischen Gemeinde. Die nachfolgende Zählung ergab vier Jahre später für Groß-Bockenheim 41 Mitglieder und für Kleinbockenheim 50 Mitglieder. Auch die Stelle des Religionslehrers, Vorbeters und Schächters der israelitischen Kultusgemeinden Groß- und Kleinbockenheim war bereits 1876 wieder neu zu besetzen, nun verbunden mit einem Gehalt von 500 Mark und circa 250 Mark Nebenverdiensten an Kasualien.

Anzeige in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 7. Juni 1876
Wie bereits zehn Jahre zuvor war schon ein Jahr später die Stelle zu den gleichen Konditionen erneut ausgeschrieben – allerdings richtete sie sich nun ausdrücklich an einen Bewerber ledigen Standes.
Anzeige in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 20. Juni 1877

Nach der massiven Auswanderungswelle 1849 waren nun die Folgen der Industrialisierung für die jüdische Bevölkerung in Bockenheim spürbarer. Die bereits zuvor begonnene Landflucht verstärkte sich, da sich in benachbarten Städten wie Worms, Ludwigshafen und Mannheim neue wirtschaftliche und berufliche Perspektiven boten. Die jüdische Minderheit war im Vergleich zur Gesamtbevölkerung mobiler und konzentrierte sich fortan verstärkt in diesen regionalen Zentren. So waren in Großbockenheim 1888 nur noch 28, in Kleinbockenheim 30 jüdische Mitbürger erfasst.

Anzeige in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 5. März 1891

1891 war erneut die Lehrer-, Schochet- und Vorbeterstelle in Groß- und Kleinbockenheim ausgeschrieben. Selbst die Möglichkeit, nun eigene Gehaltsansprüche zu formulieren, führte offensichtlich nicht zur Findung eines geeigneten Bewerbers, denn bereits 1893 begann die Suche erneut bevorzugt nach einem Ledigen.

Anzeige in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 23. Januar 1893
Trotz steigender Geburtenzahlen im Deutschen Reich stagnierte die jüdische Gemeinde in Bockenheim 1900 bei 29 Mitgliedern in Großbockenheim und 28 in Kleinbockenheim. Nun umfasste ihre am 14. Mai des gleichen Jahres ausgeschriebene Religionslehrer-, Kantor- und Schochetstelle neben einem fixen Gehalt von 600 Mark auch eine freie Wohnung bei Übernahme der Heizungskosten.
Anzeige in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 14. Mai 1900
Aber erneut war eine Zweitausschreibung notwendig, die zeitnah bereits am 5. Juli 1900 wie immer in der orthodoxen Zeitschrift „Der Israelit“ erschien.
Anzeige in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 5. Juli 1900

Die Bockenheimer jüdische Gemeinde war also durchgehend am deutschen orthodoxen Judentum orientiert – im Gegensatz zu den eher städtisch reformorientierten, liberalen Gemeinden, die in der „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“ inserierten.
1904 umfasste die jüdische Gemeinde in Großbockenheim 22 und in Kleinbockenheim 28 Mitglieder. Gemeinsam war dies für das öffentliche, vollständig gesprochene Gebet ausreichend, denn orthodoxe und konservative Juden benötigen dazu einen Minjan, eine Zusammenkunft von zehn männlichen Erwachsenen. Diese Zahl wurde jedoch 1907 in Kindenheim nicht mehr erreicht, sodass dort die Synagoge geschlossen und verkauft wurde. Damit war die Synagoge in Großbockenheim nun alleiniger Mittelpunkt des religiösen Gemeindelebens der noch in Groß- und Kleinbockenheim sowie Kindenheim lebenden jüdischen Personen bis zu ihrer Schändung im Jahr 1938.
Zwischen 1914 und 1918 waren die wehrfähigen Söhne der jüdischen Bockenheimer Mitbürger selbstverständlich Kriegsteilnehmer auf deutscher Seite – auf dieser Ehrentafel des Kleinbockenheimer Kriegervereins sind u. a. Albert und Julius Mayer abgebildet sowie Leopold und Otto Tryfuss namentlich erwähnt.

Die „Allgemeine Zeitung des Judentums“ (AZJ)

bis Mai 1903 „Allgemeine Zeitung des Judenthums“, war eine deutsche jüdische Zeitung, die vom 2. Mai 1837 bis 1922 zunächst in Leipzig, später in Berlin erschien. Ihr Untertitel lautete „Ein unpartheiisches Organ für alles jüdische Interesse in Betreff von Politik, Religion, Literatur, Geschichte, Sprachkunde und Belletristik“, ab 1845 in der Schreibweise „unparteiisches Organ“. Sie erschien anfangs zweimal pro Woche, später wöchentlich. Sie wurde die erfolgreichste jüdische Zeitschrift in Deutschland.

Täglich werden drei Gebete gesprochen

und zwar morgens, nachmittags und abends. Die Gebete stellen eine Parallele zum Opferdienst im Tempel dar. Die zu betenden Texte sind größtenteils der hebräischen Bibel entnommen. Zu den wichtigsten Gebeten gehört das Schma Jisrael („Höre, Israel“). Es ist eine Art Bekenntnisformel des Glaubens an den einen Gott und wird sowohl am Morgen als auch am Abend gesprochen. Zu allen drei Gebetszeiten spricht man die aus 19 Bittgebeten bestehende Amida. Orthodoxe und konservative Juden verstehen das dreimal tägliche Gebet als göttliches Gebot. Die meisten Reformjuden sehen sich nicht in dieser Häufigkeit zum Gebet verpflichtet. In orthodoxen und den meisten konservativen Gemeinden wird das Gebet auf Hebräisch gesprochen, in Reformgemeinden ist der Anteil am Gebet in Landessprache unterschiedlich groß.
Integration in die Gemeinschaft, Engagement im Verein: Jüdische Mitbürger waren in den 20ern Teil der Gesellschaft. Die Schriftführer G. Mayer und Alfred Levi im Protokollbuch des Gesangvereins Kleinbockenheim.
Ehrentafel des Kleinbockenheimer Kriegervereins mit der Abbildung und Erwähnung jüdischer Frontsoldaten
Gedenktafel von 1988 am Ehrenmal in Großbockenheim

Da das soldatische Engagement der jüdischen Kriegsteilnehmer während der Zeit des Nationalsozialismus ein Tabu-Thema war, ergänzte die Gemeinde Bockenheim beide Ehrenmäler für die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs 1988 um zwei gleichlautende kommentierende Tafeln für alle Opfer von Krieg und NS-Gewaltherrschaft.
Nach dem Ende des Deutschen Kaiserreichs lebten 1924 in Kleinbockenheim noch 36 jüdische Personen (4,5 % von ca. 800 Einwohnern). Zur Gemeinde gehörten auch die sieben in Großbockenheim und die zwölf in Kindenheim lebenden jüdischen Personen. Gemeindevorsteher waren Siegmund Mayer, Abraham Tryfuss und Jacob Mayer. Als Gemeindesekretär war Georg Bader in Großbockenheim tätig.

Dieses Foto stellte Dieter Storzum aus Familienbesitz zur Verfügung. Es zeigt rechts das Haus der Familie Herz, das nach dem Krieg abgerissen wurde. Bemerkenswert ist die Hakenkreuzfahne sowie der Bronze-Löwe oberhalb der Schlosstreppe, der später für Kriegszwecke eingeschmolzen wurde.

Die Situation nach 1930

War die Kaiserzeit schon reichsweit durch einen latenten Antisemitismus (i) geprägt gewesen, wurden in der Weimarer Republik mit dem Aufstieg der NSDAP (i) die Zeiten für die jüdischen Mitbürger zunehmend unruhiger. So findet sich im Gemeindearchiv eine Einladung vom 29. Januar 1931 an das Bürgermeisteramt Kleinbockenheim zu einer Teilnahme an der Sitzung des „Ausschusses zur Feststellung von Entschädigungen für Aufruhrschäden“ für den Regierungsbezirk Pfalz, der u. a. den Schadensfall des jüdischen Holzhändlers Albert Mayer aus Kleinbockenheim behandelte.

Antisemitismus

Der Ausdruck entstand 1879 als Eigenbezeichnung deutscher Judenfeinde. Ihr politischer Schwerpunkt hierbei war Nordhessen, wo es der antisemitischen „Deutschen Reform-Partei“ bei der Reichstagswahl im Jahre 1893 gelang, mit zwölf direkt gewählten Abgeordneten in den Reichstag einzuziehen. In der Pfalz spielten antisemitischen Parteien in der Kaiserzeit keine Rolle.

NSDAP

Bei der Reichstagswahl vom 14. September 1930 stiegen die Stimmen für die NSDAP in Großbockenheim gegenüber der Reichstagswahl von 1928 von sieben auf 125 und in Kleinbockenheim von 31 auf 124 an.
Leininiger Ring 65 – Ehemals Stammsitz der Firma L. Müller & Cie – zugleich Wohnsitz von Alfred Mayer

Während Albert Mayer sich also mit Holzhandel beschäftigte, ging sein älterer Bruder Leo dem Getreidehandel und sein jüngerer Bruder Julius dem Viehhandel nach. Gemeinsam firmierten sie als Handelsfirma L. Müller & Cie in Kleinbockenheim mit mehreren weiteren Beschäftigten und eigenem LKW. Die drei Brüder besaßen drei nebeneinander sowie günstig gegenüber dem Bahnhof Bockenheim-Kindenheim gelegene stattliche Anwesen im heutigen Leininger Ring 65 (Albert Mayer), Leininger Ring 67 (Leo Mayer) und Leininger Ring 71 (Julius Mayer). Zudem war Leo Mayer seit 1920 Mitglied des Kleinbockenheimer Gemeinderates.

Was sich 1931 mit dem Begriff „Aufruhrschaden“ andeutete, vollzog sich mit der Machtübernahme durch die NSDAP und Adolf Hitler ab dem 30. Januar 1933 immer gewalttätiger: Am 25. März 1933 wurde Leo Mayer nach 13 Jahren Zugehörigkeit gezwungen, sein Gemeinderatsmandat niederzulegen. Im April 1933 entging sein Bruder Julius nur durch das beherzte Eingreifen des Kleinbockenheimer Bürgermeisters Konrad Muth nationalsozialistischen Übergriffen. Durch dessen Abwahl am 26. April 1933 verloren die Kleinbockenheimer Juden aber auch diese Protektion. Daraufhin verzog bereits 1935 mit Albert der älteste Mayer-Bruder mit Frau und zwei Kindern aus der Bahnhofstraße nach Frankfurt am Main.
Trotzdem zählte man zum 30. Juni 1936 noch immer 28 jüdische Personen in Kleinbockenheim; zum 1. Oktober 1937 waren es nur noch 20 – für Großbockenheim fehlen im Gemeindearchiv die Angaben. Weiter mussten die Bockenheimer zunächst ab dem 28. März 1938 ein Vermögen über 5.000 Reichsmark anzeigen und ab dem 14. Juni 1938 eine Kennzeichnung ihrer Gewerbebetriebe dulden – beides betraf neben den verblieben beiden Mayer-Brüdern zum Beispiel auch Alfred Levi, der ein Manufakturwarengeschäft in der Großbockenheimer Hauptstraße unterhielt. Wie alle anderen männlichen Bockenheimer Juden musste er ab dem 17. August 1938 den ergänzenden Vornamen „Israel“ tragen, die Frauen ihrem Vornamen „Sara“ beifügen.

Leininger Ring 71 – bis 1938 das Anwesen des Viehhändlers Julius Mayer

Als daraufhin Anfang September 1938 auch Julius Mayer mit weiteren fünf Angehörigen aus der Bahnhofstraße bzw. der namensgleiche Julius Mayer von der Kleinbockenheimer Ortsstraße mit drei weiteren Angehörigen in die USA auswanderten, war die jüdische Gemeinde nicht mehr lebensfähig und wurde am 20. September 1938 von der jüdischen Kultusgemeinde der Pfalz rückwirkend zum 1. Januar 1938 für aufgelöst erklärt.

Trotzdem blieb auch in Bockenheim im Rahmen der Reichspogromnacht um den 9. November 1938 die hiesige Synagoge nicht vor der Schändung bewahrt: Sitzbänke, Thoraschreine und Kronleuchter wurden zerschlagen, Thoraschmuck, Ewiges Licht und Trauhimmel zerstört – eine Brandschatzung wurde lediglich unterlassen, weil sonst die benachbarte Scheune von Theodor Lauermann in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. Zudem bewohnte Karl Wiessner als christlicher Verwalter mit Frau und zehn Kindern das ehemalige Gotteshaus – innerorts wäre kein anderer Wohnraum für zwölf Personen auffindbar gewesen. Die geschändete Synagoge wurde von der jüdischen Kultusgemeinde der Pfalz anschließend noch im November 1938 für 1.000 RM der Gemeinde Großbockenheim übertragen – nachdem Karl Wiessner vergeblich eine im September 1938 notariell hinterlegte Schenkung des Gebäudes zugunsten seiner Familie durch die jüdische Gemeinde Bockenheim reklamiert hatte. Wenigstens das Wohnrecht der Familie Wiessner blieb durch den Besitzerwechsel aber gewährt.

Hingegen wurde Leo Mayer aus Kleinbockenheim sowie Alfred Levi, Arthur Mayer und Heinz Mayer aus Großbockenheim infolge des 9. November 1938 das Wohnrecht ab dem 12. November 1938 erst einmal kurzfristig genommen, indem man sie mehrere Wochen im KZ Dachau inhaftierte.

Am 3. Dezember 1938 wurde den deutschen Juden auferlegt, ihre Gewerbebetriebe zu verkaufen oder abzuwickeln und ihren Grundbesitz zu veräußern. Betroffen hiervon waren unter anderem der Metzger Hermann Herz, der Tuchhändler Alfred Levi und der Getreidehändler Leo Mayer – nun als Alleininhaber von L. Heinrich & Cie. Wer wie Leo Mayer noch konnte, floh nun ebenfalls ins Ausland oder zumindest aus der Pfalz.

Als am 22. Oktober 1940 die Gauleiter Wagner (Baden und Elsass) und Bürckel (Saarpfalz und Lothringen) beschlossen, in einer Nacht- und Nebelaktion ihre Gaue „judenrein“ zu machen, lebten nur noch drei Juden in Kleinbockenheim sowie sechs in Großbockenheim. Alle wurden schon am 21. Oktober 1940 unter der Mitnahmemöglichkeit weniger Habe per offenem LKW nach Ludwigshafen transportiert und von dort gemeinsam mit weiteren pfälzischen Juden per Eisenbahn nach Gurs in ein ehemaliges Internierungslager für spanische Bürgerkriegsflüchtlinge in Südwest-Frankreich deportiert.

Grab vom Max Mayer im südfranzösischen Gurs
Max Mayer und Hedwig Herz liegen dort begraben; Hermann Herz verstarb 1941 im benachbarten Lager Récébédou, Berta Zobel 1943 im Lager Noe. Alfred Levi, Arthur Mayer, Heinz Mayer, Hedwig Sonnheim und Julie Weil aus Großbockenheim wurden von Gurs aus weiter ins KZ Auschwitz verbracht und kamen dort um.

Wiedergutmachung nach 1945

Erst nach dem endgültigen Sieg der Alliierten über Hitlerdeutschland am 8. Mai 1945 wurde das erschreckende Ausmaß der Naziverbrechen an den Juden für die Weltöffentlichkeit immer sichtbarer. Es war für die Westalliierten von Anfang an klar, dass zur Wiederherstellung fundamentaler Rechtsprinzipien in einem demokratischen Deutschland auch die Rückgabe entzogenen jüdischen Eigentums gehören würde. So entstanden in den unmittelbaren Nachkriegsjahren alliierte Rückerstattungsgesetze, die für die drei westlichen Besatzungszonen Rechtsprinzipien schufen und Verfahren vor den deutschen Zivilgerichten etablierten, nach denen jüdische Verfolgte ihr Vermögen zurückverlangen konnten. Dies traf vor allem auf die erzwungenen Überlassungen zu, die nach dem 3. Dezember 1938 infolge der „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ erfolgt waren. Entsprechend sind in den umfangreichen Wiedergutmachungsakten des Landesarchiv Speyers für Bockenheim zahlreiche Rechtstreitigkeiten dokumentiert, die die erzwungenen Überlassungen betreffen. Konkret wurde spätestens ab dem 14. Juli 1948 auch in Bockenheim das nach 1933 vorhandene jüdische Vermögen ermittelt und von der Französischen Besatzungsmacht bis zur Klärung der Eigentumsverhältnisse zunächst unter Sequester gestellt.

Beispielhaft betraf dies den letzten Sitz der Firma L. Müller & Cie in der Bahnhofstraße 11 (heute Leininger Ring 67), in der Leo Mayer seine eigene Getreide- und als Vertreter seines Bruder Albert ab 1935 auch dessen Holzhandlung betrieb. Nach seiner Entlassung aus dem KZ Dachau am 16. Dezember 1938 verzog Leo Mayer mit seiner Familie nach Mannheim und emigrierte von dort aus nach New York – finanziert u. a. mit dem zwangsweisen Verkauf seines Anwesens am 18. September 1939 mit „Keller, Pferdestelle, Futter- und Geschirrkammer, Holzschuppen, Waschküche, Hühnerstall und Hof“ sowie eines als Holzlager genutzten Gartengrundstücks in den Weiherwiesen für insgesamt 30.000 RM an die Gemeinde Bockenheim. Das zurückgelassene Inventar – Sofa, Standuhr, Lampen, Badewanne, Garderobenständer, Waschbecken, Esszimmereinrichtung, Kleiderschrank und Bettstelle – wurde versteigert und danach zu seinem neuen Besitzer nach Kindenheim verbracht. Nach einer Nutzung u. a. als Heim der Hitlerjugend, die darin Schießübungen veranstaltete, verkaufte die Gemeinde Kleinbockenheim das Anwesen am 27. Oktober 1941 an einen Obstgroßhändler in Monsheim weiter, um mit dem Gewinn eine Ortsstraße zu pflastern. Der neue Besitzer wurde 1945 als NS-Aktivist von der Französischen Besatzungsmacht verhaftet und sein Anwesen von der Besatzungsmacht requiriert. Anschließend eröffnete dort der spätere Bockenheimer Bürgermeister Erich Mattern auf Mietbasis seinen ersten Friseursalon. Im Mai 1949 klagte Leo Mayer vor der Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Frankenthal auf Rückgabe seines noch immer stattlichen Anwesens, die am 1. September 1950 erfolgte. Für das geraubte Inventar musste der Kindenheimer Erwerber 80 (!) DM Entschädigung bezahlen. Nun forderte aber wiederum der kurzzeitige Monsheimer Besitzer den damaligen Kaufpreis von der Gemeinde Kleinbockenheim zurück und taxierte den Streitwert auf 22.000 DM. Während Leo Mayer das Anwesen im Oktober 1953 weiter veräußerte, erhielt der zwischenzeitliche Besitzer vor Gericht ebenfalls Recht und musste von der Gemeinde mit 25.500 DM entschädigt werden.

Leininger Ring 67 – bis 1938 Wohnsitz des ehemaligen Gemeinderates Leo Mayer
Am Ort des Manufakturgeschäfts von Alfred Levi findet sich heute nur noch ein Parkplatz
Nicht alle Eigentumsverhältnisse mussten so konfliktreich geklärt werden. Das Anwesen des Tuchhändlers Alfred Levi in der Großbockenheimer Hauptstraße – heute Weinstraße 69 – war am 5. April 1939 erzwungenermaßen von Levi auf die Gemeinde Großbockenheim übergegangen. Nach der Deportation von Levi nach Gurs im Oktober 1940 mietete die Familie Seltsam das Anwesen und erwarb es schließlich am 10. Dezember 1943. Im gleichen Zeitraum wurde Levi in Auschwitz ermordet – seine Kinder waren noch rechtzeitig in die USA entkommen. Zwar wurde das Anwesen am 8. August 1948 unter Sequester gestellt, aber mit dem 24. August 1949 verzichteten die Erben von Alfred Levi schriftlich zugunsten der Familie Seltsam nicht nur aufgrund des schlechten baulichen Zustands, sondern auch wegen des früheren gutnachbarlichen Verhältnisses zwischen beiden Familien auf das Anwesen.
Schreiben der Erben von Alfred Levi an die Familie Seltsam
Zurückgefordert wurde von den Erben Levis hingegen ein Baumgrundstück im Pfarrgarten von einem weiteren Käufer, wofür nachträglich am 18. September 1950 als Vergleich 325 DM gezahlt wurden.
Leininger Ring 121 – ehemaliges Anwesen des Viehhändlers Siegmund Mayer

Auch das Anwesen des Viehhändlers Sigmund Mayer im Leininger Ring 121 ging mit dem 24. Mai 1949 mit einer Verzichtserklärung der Erben Julius und Heinrich Mayer endgültig an den Käufer von 1938 – Jakob Blasius – über; ebenso zwei Obstbaumgrundstücke an Christoph Christ und zwei Äcker an Jakob Born. Julius Mayer bat in seinem betont freundschaftlich gehaltenen Verzichtsschreiben als Ausgleich lediglich um die Zusendung von „50 Flaschen guten Weins“ nach Libertyville in den USA, wo er seit der Auswanderung in die USA 1938 als Farmer lebte.

Schreiben von Julius Mayer an Jakob Blasius, Jakob Born und Christoph Christ
Die handschriftlich hervorgehobene Villa Herz auf einer Postkarte vor 1933

Hingegen beharrten die nach New York entkommenen drei Kinder von Hermann und Johannetta Herz, deren Eltern im Rahmen der Zwangsdeportation nach Frankreich 1940 ums Leben gekommen waren, auf eine Rückgabe des elterlichen Anwesens in der Ortsstraße 121 (heute die Grünanlage Leininger Ring/An der Schlosstreppe). Hermann Herz hatte sein Metzger-Anwesen am 21. Dezember 1938 für 3.000 RM an die Gemeinde Kleinbockenheim übereignen müssen. Tatsächlich musste die Gemeinde nach einem letztrichterlichen Urteil vom 24. November 1950 von ihrem Kaufvertrag zurücktreten und die Streitsache erneut erwerben. Rückgefordert von den Erben wurden aber auch mehrere noch von Hermann Herz verkaufte Äcker, Baumgrundstücke und Weinberge von insgesamt vier Bockenheimer Käufern. Hier belief sich die Vergleichssumme auf insgesamt 700 DM.

Schiffergasse 5 – ehemaliges Anwesen des Handelsmanns Jakob Mayer

Wenn sich allerdings keine Erben mehr für ehemaliges jüdisches Vermögen fanden, dann handelte die Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Frankenthal selbstständig, wie z.B. bei dem Anwesen Schiffergasse 5. Hier wohnte der 1935 verstorbene Handelsmann Jakob Mayer. Seine Witwe Rosa verkaufte das Anwesen mit Garten am 6. Oktober 1938 an einen Former und verzog anschließend ins jüdische Altersheim nach Neustadt an der Weinstraße. Nachdem das dortige Altersheim in der Reichspogromnacht niedergebrannt wurde, wurde sie in ein „Judenhaus“ (i) nach Mannheim verbracht. Am 22. Oktober 1940 wurde auch sie nach Frankreich deportiert, wo sie in Portet St. Simon verstarb. Am 26. Oktober 1951 musste der Former in einem Vergleich noch einmal 2.500 DM entrichten – eingerechnet die Miete für das Anwesen ab der Unter-Sequester-Stellung. Die 2.500 DM gingen an das Amt für Sondervermögen, das Entschädigungen für Opfer des Nationalsozialismus leistete. Weiterhin hatte Rosa Mayer am 23. Oktober 1938 fünf Äcker und einen Weinberg an einen Weinkommissionär verkauft. Hier belief sich der Vergleich am 16. Februar 1954 auf 1.800 DM zugunsten des Amtes für Sondervermögen. Hinzu kamen noch einmal 1.500 DM von einem Landwirt für zwei Grundstücke.

Unter Sequester gestellt waren auch das Anwesen sowie mehrere Äcker und Baumgrundstücke der Familie Tryfuss in der heutigen Jakob-Böshenz-Straße. Allerdings war der dort ansässige Metzger und Viehhändler Abraham Tryfuss bereits im Oktober 1937 verstorben und seine Witwe Karolina emigrierte im Juni 1938 zu ihrem Sohn Leopold in die USA, der sich bereits im April 1937 dorthin begeben hatte. Offensichtlich konnte aber der amerikanische Aufenthaltsort der Familie Tryfuss damals nicht ermittelt werden, so dass das Rückgabeverfahren durch die Oberstaatsanwaltschaft in Frankenthal am 11. September 1950 eingestellt wurde.

Als Judenhaus

wurden in der Behördensprache des NS-Staates Wohnhäuser aus (ehemals) jüdischem Eigentum bezeichnet, in die ausschließlich jüdische Mieter und Untermieter zwangsweise eingewiesen wurden. Damit wurde zu Lasten der Juden Wohnraum für die „arische“ Bevölkerung freigemacht. Die Maßnahme erleichterte Diskriminierungen der jüdischen Bewohner und unterband gewachsene nachbarschaftliche Beziehungen. Der Begriff Judenhaus wurde in die Alltagssprache des Dritten Reichs übernommen. Als Alternative zum nationalsozialistischen Begriff wird heute auch der Begriff Ghettohaus verwendet.
Ehemaliges Schuhgeschäft Mayer an der Weinstraße 33
Abschließende Akten fehlen zu dem ebenfalls unter Sequester gestellten Doppelhaus Weinstraße 33/Stiegelgasse 1, in dem die Familie Mayer u. a. ein Schuhgeschäft betrieben hatte. Zu den Bewohnern zählten bis 1940 Max Mayer – verstorben in Gurs – sowie seine Söhne Arthur und Heinz, die beide in Auschwitz ums Leben gekommen sind.
Ehemaliges Anwesen der Familie Zobel im Burggraben 20
Für die beiden ehemals jüdischen Anwesen im Burggraben 12 und 20 liegen keine Akten über Rückforderungen vor, obwohl zumindest Berta Zobel 1940 aus dem Burggraben 20 nach Frankreich deportiert wurde, wo sie 1943 verstarb.

Ein Streitpunkt blieben auch die Besitzverhältnisse rund um die ehemalige Synagoge in Großbockenheim. Karl Wiessner argumentierte bereits unmittelbar nach Kriegsende – wie 1938 – nun sogar vor dem Zentralrat der Juden in Frankfurt am Main dahingehend, dass er als Verwalter das Gebäude von der ehemaligen Jüdischen Gemeinde Bockenheims übertragen bekommen hatte, fand aber auch dort kein Gehör. Lediglich das verbriefte Wohnrecht der Wiessners blieb bis 1960 fortbestehen.

Mit dem Abschluss der Restitutionen war das Unrecht an der Jüdischen Gemeinde Bockenheims während der NS-Diktatur formaljuristisch aufgearbeitet; von den vertriebenen Mitbürgern kehrten aber nur die 1937 in die USA emigrierten Max und Hermine Herz nach Bockenheim zurück. Beide fanden ihre letzte Ruhestätte 1972/73 auf dem Friedhof Nord.

Der Grabstein auf dem Friedhof Nord
Die ehemalige Synagoge heute

Nachdem zum gleichen Zeitpunkt die ehemalige Villa Herz im Leininger Ring wegen ihres ruinösen Zustands abgerissen worden war, wurde nach jahrelangem Leerstand 1974 von der Jüdischen Kultusgemeinde der Rheinplatz auch das ehemalige Synagogengebäude für 8.000 DM wieder an die politische Gemeinde verkauft, die es an die Familie Semler weiter veräußerte. Das Synagogengebäude wurde anschließend zu einem Wohnhaus umgebaut. Dabei wurde im Betraum eine Zwischendecke eingezogen, die Rundbogenfenster wurden vermauert und verputzt, die hebräische Portalinschrift nach innen versetzt. Drei Rundfenster im Giebeldreieck blieben zunächst als einzige sichtbare äußere Spuren erhalten.

Anlässlich des 50. Jahrestages der Reichspogromnacht ließ die Gemeinde jedoch an der Außenwand des Gebäudes eine Gedenktafel anbringen. Vorangegangen war ein gut besuchter ökumenischer Gottesdienst in der Katholischen Kirche St. Lambertus. Bei der feierlichen Enthüllung der Gedenktafel durch Bürgermeister Mattern waren die Tochter des ehemaligen jüdischen Gemeindevorstehers Abraham Tryfuss, Hilde Hess, sowie der Sohn von Julius Mayer, Franz Mayer, mit seiner aus Darmstadt stammenden Ehefrau als Ehrengäste anwesend.

Gedenktafel an der ehemaligen Synagoge im Ulmenweg

Der von Hans Niederberger nachfolgend erstellten Dokumentation „Schicksale jüdischer Mitbürger in Bockenheim an der Weinstraße“ verdanken wir eine ausführliche Darstellung der würdigen Gedenkveranstaltung. Auszüge aus der Dokumentation Niederbergers wurden auch in der 2006 erschienenen Bockenheimer Ortsgeschichte veröffentlicht.

Am 9. November 2000 erfolgte eine weiteren Gedenkveranstaltung an die Pogromnacht 1938, veranstaltet vom Bockenheimer Stamm des Verbands Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder – mit dem Autor als Referenten – in der Martinskirche. Anschließend wurde vor der Trauerhalle des Friedhofs Bockenheim Nord eine Gedenktafel enthüllt, auf der die Namen der 1940 aus Bockenheim deportierten jüdischen Mitbürger verewigt sind. Auf der Gedenktafel ist auch das Siegergedicht des Mundartdichter-Wettstreits von 1994 Norbert Schneider zu lesen: „Em Jakob sei Leicht“.

Christa Wöhrle enthüllt 2000 die Gedenktafel
Gedenktafel vor der Trauerhalle Friedhof Nord

In den folgenden Jahren erstellte der Autor in Kooperation mit der Pfälzisch-Rheinischen Familienkunde ein umfassendes Verzeichnis der jüdischen Mitbürger von Bockenheim zwischen 1800 und 1940 – ein Projekt, das 2012 seinen Abschluss fand.

Von starkem medialem Interesse begleitet – bis zur Landesschau Rheinland-Pfalz – wurde der Autor im Januar 2022 durch den Gemeinderat mit einer Konzeption zur Aufarbeitung der jüdischen Historie Bockenheims beauftragt. Hierzu zählte nach einer umfangreichen Archivrecherche auch die Erarbeitung dieser „Kleinen Geschichte der Jüdischen Gemeinde Bockenheims“. Für das Layout und den Bildteil konnte der Kindenheimer Fotograf Wolfgang M. Schmitt gewonnen werden. Neben nachfolgend geplanten Vorträgen soll im weiteren Verlauf auch ein beschilderter Gedenkweg zur Erinnerung an die Jüdische Gemeinde Bockenheims ausgewiesen werden.

Ulmenweg mit Synagoge früher
Maria Wiemer

Erinnerungen einer Zeitzeugin

Maria Wiemer, 1923 in Bockenheim geboren, kann sich noch lebhaft an die jüdischen Mitbürger und ihre Häuser erinnern und so manche Begebenheit von damals erzählen:

So hatte ihr Vater Peter Geißler – er war Maurer – im jüdischen Anwesen in der Schiffergasse zu tun. Der Besitzer, Jakob Mayer, habe mit Ziegenfellen gehandelt. Ihr Vater wurde, als er eine Pause einlegte, freundlich eingeladen, sich doch an den Tisch zu setzen und dort sein mitgebrachtes Brot zu verzehren. Nichts ahnend ergriff er das Messer, das auf dem Tisch lag, um seine Stulle zu schneiden. Ein Aufschrei der Hausfrau kündete von Unheil: Das Brot war mit Schinken belegt, das Messer somit „treife“, also nicht mehr „koscher“; Juden durften es nicht mehr verwenden, bevor es rituell gesäubert war.

Das Haus Stiegelgasse 1 gehörte Max Mayer, ebenso wie das angrenzende Haus Weinstraße 33. Das Haus in der Stiegelgasse (heute Frisörsalon Öhler) war an eine deutsche Familie Hahnel vermietet. Deren Tochter Katharina war im gleichen Alter wie Maria Wiemer. Max Mayer betrieb einen Viehhandel. Wenn es im Hause Mayer „Matze“ (ungesäuertes Brot) gab (am Pessach-Fest), durften die beiden Mädels sich davon nehmen. Aber „geschmeckt hat es nicht“, so ohne Sauerteig oder Hefe und ungesalzen.

Gertrud Mayer habe später einen Schokoladenfabrikanten aus Mannheim geheiratet und sei rechtzeitig nach Amerika ausgewandert. Nach dem Krieg sei sie einmal nach Bockenheim gekommen. Ihr Brüder kamen in der Zeit des Dritten Reiches ums Leben.
Alfred Levi (damals Weinstraße 69, das Haus ist inzwischen abgerissen) betrieb einen Stoffhandel. Die Ballen waren in der Wohnstubb‘ gelagert. Die Bockenheimer kauften dort den Stoff, wenn sie vom Schneider neue Anzüge oder Kleider machen ließen oder selbst nähten. Wenn die Kinder mitkamen, bekamen sie ein Stück Brot.

Levi suchte jemand als Haushaltshilfe, und die Mutter von Maria Wiemer vermittelte ein junges Mädchen aus Börrstadt, das sie zufällig kannte. Das Mädchen „hot’s gut gehatt“. Levi schenkte ihr „gute Bettwäsch‘“, die sie in einer Truhe aufbewahrte. Als die Nazis das Haus plünderten, nahmen sie auch diese Truhe mit, aber auf Intervention des Bürgermeisters Böll wurde sie wieder der rechtmäßigen Eigentümerin übergeben.

Albert Mayer betrieb im heutigen Leininger Ring einen Holzhandel. Die Eltern von Maria Wiemer heirateten 1917, eine Kriegshochzeit. Der Vater schrieb seiner jungen Frau von der Front einen Brief, sie solle bei Mayers Holz kaufen, aus dem dann sein Bruder – er war Schreiner – ein Schlafzimmer bauen würde. Den Brief hat Maria Wiemer bis heute aufbewahrt. Die Möbel sollen sehr schön gewesen sein.
An der Schlosstreppe wohnte Hermann Herz, ein Metzger. Wenn er schlachtete, soll das Blut „die ganz Gass‘“ runter geflossen sein. Johannetta Herz sei damals samstags mit einem Leiterwagen herumgefahren und habe Rindfleisch verkauft. Schweinefleisch hatten die Bauern selbst, am Sonntag wollten sie einen guten Rinderbraten. Das rot karierte Küchentuch, mit dem das Fleisch auf dem Leiterwagen abgedeckt war, ist Maria Wiemer noch gut in Erinnerung, auch wenn sich ihre Familie den teuren Sonntagsbraten nicht leisten konnte.

Und dann ist da noch die Sache mit den Hemdkragen: Die waren damals separat und ihre Tante stärkte und bügelte sie für ihre Kunden. „Die Juden haben viel bügeln lassen“. Als Mädchen hat Maria Wiemer dann die Hemdkragen ausgetragen und bekam dafür als „Botengeld“ zwei Pfennige. Die jüdischen Mitbürger seien wohlhabender gewesen als die übrige Bevölkerung. Die Kinder durften auf „bessere“ Schulen gehen. Und: Wenn es darum ging, Geld auszuleihen, ging man damals zu den Juden. Wahrscheinlich, so vermutet Maria Wiemer, waren deshalb die Ausschreitungen gegen Juden so manchem recht: Wurden sie doch auf einen Schlag ihrer Schulden ledig.

Bildanhang

Der Platz an der Schlosstreppe vor der Umgestaltung…
… und heute.
Der jüdische Friedhof in Obrigheim weist heute nur noch wenige Grabstellen auf, im Gegensatz zum…
…Kindenheimer Friedhof, der etwas versteckt außerhalb „Am Judenberg“ liegt.

Symbole auf Grabsteinen des jüdischen Friedhofs in Kindenheim

Segnende Priesterhände und Davidstern
Levitenkanne (links), daneben ein Blumenornamen
Hand der Mirjam (Chamsa) (links) und Inschrift „Hier ist geborgen“
Kindenheimer Friedhof im Winter
Steine: Zeichen des Gedenkens
Kindenheimer Friedhof im Winter
Steine: Zeichen des Gedenkens
Die Frühlingssonne lässt die hebräischen Inschriften besonders plastisch hervortreten

Die Zeit des Dritten Reiches: Schlageter-Hain in Bockenheim (i)

Albert Leo Schlageter

wurde 1923 wegen Spionage und Sprengstoffanschlägen während der Ruhrbesetzung von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Er galt deshalb bei der NSDAP als „Märtyrer“ des Nationalsozialismus.
Festumzug mit Hakenkreuzfahne

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Gemeindearchiv Bockenheim an der Weinstraße
https://www.alemannia-judaica.de/bockenheim
Landesarchiv Speyer
Privatarchiv Dr. Klaus J. Becker

Literatur

Becker, Klaus J. u.a.: Jüdische Mitbürger in Bockenheim zwischen 1800 und 1940, Ludwigshafen am Rhein 2012

Becker, Klaus J./ Schmitt, Wolfgang M: Vereint seit 50 Jahren – Bockenheim an der Weinstraße, Bockenheim an der Weinstraße 2006

Niederberger, Hans: Schicksale jüdischer Mitbürger in Bockenheim an der Weinstraße, Bockenheim an der Weinstraße 1988

Impressum

Herausgegeben 2024 durch die Ortsgemeinde
67281 Bockenheim a. d. Weinstraße

Die Rechte an Bildern und Texte liegen bei den jeweiligen Autoren. Ein Nachdruck, der über die Zitierfreiheit hinaus geht, ist nur mit Genehmigung der Autoren gestattet.

Der Autor Klaus J. Becker ist promovierter Politologe und Historiker. Er stammt aus Bockenheim und engagiert sich im Gemeindearchiv sowie dem im Aufbau bestehenden Ortsmuseum.

Wolfgang M. Schmitt, pensionierter Lehrer aus Kindenheim, steuerte Fotos bei und übernahm das Layout dieser Broschüre.

Beide hatten bereits in der Bockenheimer Chronik „Vereint seit 50 Jahren“ (2006) erfolgreich zusammengearbeitet.

Unser Dank gilt Harald Ferber, der auf die Integration jüdischer Bürger im Gesangverein hingewiesen und die Dokumente dazu zur Verfügung gestellt hat.